Café Littéraire: Gertrud Leutenegger – Späte Gäste
Gertrud Leuteneggers jüngster Roman "Späte Gäste" (Suhrkamp) ist der von einem wilden Erinnerungsstrom unterspülte Monolog einer Frau, die in das Tessiner Dorf zurückkehrt, das sie vor vielen Jahren gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter verlassen hatte. Auch den Mann, Orion, hatte sie in dem Ort zurückgelassen, und nun ist der Mann tot, er liegt aufgebahrt in der abgeschlossenen Dorfkapelle. Leutenegger-Leser kennen diesen wilden, so mutig am Gelingen interessierten wie elend an die Glücklosigkeit verlorenen Architekten und Türmebauer aus dem Roman "Pomona" von 2004. Ein vitaler Mann, dessen Kraft und Talente irgendwie ins Leere laufen und der am Ende als beeindruckender Sonderling dem Pfarrer des Ortes mit ständigen Fragen nach der Uhrzeit den letzten Nerv raubt.
Die Frau, sie ist identisch mit der Erzählerin, kommt spätabends in dem Dorf jenseits des Gotthardpasses an. Es bleibt ihr als Übernachtungsmöglichkeit nur das alte Gasthaus am Dorfrand, dessen Türen der verreiste Wirt hat offen stehen lassen und in dessen Inneren sie sich gut genug auskennt, um sich dort zu behelfen und das Interieur, die Deckenverzierungen, das Schattenspiel und die Spiegelungen als Anlässe für hell und schön konturierte Erinnerungsbilder zu nutzen. Wie ein winterliches Schattentheater spielen sich Szenen aus der jüngeren Vergangenheit des Dorfes vor der Erzählerin ab.
Gertrud Leutenegger arrangiert den Nachklang der Stimmen, das Herumschleichen der Schatten und die Nöte der gegenwärtigen Welt zu einer allegorischen Erzählung, die manchmal wie ein poetisches Hilfegesuch an die reale Welt erscheint: "Meine Kraft, mit Wörtern als einer lebendigen Wirklichkeit zu leben, kehrte sich gegen mich", heisst es einmal. Dies umso mehr als es immerhin - neben Serafina - eine weitere zupackende Figur in dieser Geschichte gibt. Das ist der Wirt, der beobachtet hat, wie die Bewohner der Küstenstadt Pozzallo bei aller Fürsorge für die Flüchtlinge deren an den Strand geschwemmte Kleider nicht anzufassen wagen.
Gertrud Leutenegger leuchtet mit ihrer so kühnen und schönen Sprache, mit raffinierten Überblendungen und bald filmischen Sequenzen das ganze Angsttheater unserer Gegenwart aus. Wir wissen, dass schlimme Dinge passieren, und wir wissen auch, dass wir sterben müssen, aber wir können uns immer noch etwas vorzaubern mit dem, was wir Erinnerung nennen. "Dass man an so viel Stille erwachen kann, ich wußte es nicht", sagt die Erzählerin irgendwann so gegen Morgen, da läuten schon die Glocken für den toten Orion. (Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung)
Das Café Littéraire ist eine Veranstaltungsreihe der Kulturkommission Lenzburg in Kooperation mit dem Aargauer Literaturhaus.
Kaffee und Gipfeli gibt es ab 10:30 Uhr.
Eintritt: Fr. 15.- (AHV/IV reduziert: Fr. 10.-)