Daniel Goetsch: X.

Für wen oder was steht die „Unbekannte X“ auf dem Buchtitel? Das erste Kapitel beginnt mit „Du siehst“. Und der Leser sieht dabei dieses Du neben Lea auf einem Campingstuhl sitzen – für den weitern Roman eine Schlüsselszene. Bald wird klar, dass dieses Du der namenlose Ich-Erzähler X ist, der mit diesem und vielen weitern Kapiteln, die stets mit diesem „Du siehst“ beginnen, sich Erinnerungs- oder auch Wunschbilder imaginiert. Und diese Bilder zeigen den anfangs der Zwanzigerjahre stehenden Protagonisten als einen im Moment sehr unsicheren jungen Mann. Aufgewachsen in der Vorstadt mit einer überbehütenden, alleinerziehenden Mutter, hat er das Gymnasium geschafft; dies vor allem dank seines Freundes Luk. Seine grosse, bei seiner Schüchternheit aber kaum offenbarte Liebe galt während dieser Zeit der Mitschülerin Lea, Tochter aus bestem Haus. Eine negative Rolle während der Schulzeit spielte für X der Klassenkamerad Baster, der es immer wieder verstand, ihn in verschiedenen Szenen bloss zu stellen. Dank der Ich-Erzählung und den Einschüben mit „Du siehst“ erhält der Leser ein interessantes Psychogramm von X. Die Jetztzeit der Erzählung wird dem Leser erst nach und nach bewusst: X hat eben eine halbjährige Schlafkur (warum?) hinter sich und findet seine Umgebung nun ziemlich verändert vor. Luk, sein Freund, hat das Studium geschmissen und strebt nach dem grossen Geld indem er für eine mafiöse Agentur arbeitet. In deren Handel mit einem illegalen Psychopharmkon ist auch Baster verwickelt, der sich im übrigen an gewalttätigen und pornographischen Videos amüsiert. Verschwunden bleibt die anscheinend auch in kriminelles Milieu abgetauchte Lea. Die Suche nach ihr und ihre Rettung füllt nun in obsessiver Weise die Zeit und das ganze Denken von X aus. Dieser zweite Teil des Romans wird zu einem eigentlichen Thriller. Viele der Szenen wirken unglaubhaft, sogar surreal. Während Lea verschwunden bleibt, geschieht Rettung für X einerseits durch seine Mutter, die einen Schlaganfall erleidet und gerade dadurch ihrem Sohn zu einer realen Aufgabe wird. Anderseits ist es die ehemalige Freundin von Lea, die durch ihre Zuneigung den jungen Helden wieder Fuss im Leben fassen lässt, sodass er gar daran denkt, sein unterbrochenes Jurastudium wieder aufzunehmen. So endet die weitestgehend traurige Geschichte doch mit einem Hoffnungsschimmer. Durch seine zwei Teile, fällt der Roman etwas auseinander. Dies mag zwar dem schizoiden Charakter von X entsprechen. Die von Brutalität, Sex und Porno aufgesättigte Story der Suche nach Lea mag verstören. Vor allem zeigt sie das Bild einer hedonistischen Jugend, die den Lebenszweck bloss im Geld, Sex und Vergnügen sieht – und diese Sicht ist doch sehr einseitig oder falsch. Gelungen am Roman ist die Dramaturgie mit dem Ich-Erzählstrom einerseits und den wiederholt eingeschobenen Innern Monologen, deren Sprache äusserst bildstark ist. Auch entspricht die unprätentiöse Sprache des Autors mit ihren meist kurzen parataktischen Sätzen dem Milieu des Romans. (Erich Lüthi)

Bettina Spoerri